Um 6 Uhr morgens werden wir durch laute Rufe unsanft aus dem Schlaf gerissen. Wir sitzen senkrecht in unserem Zelt und brauchen erst eine Weile, bis wir wissen, wo wir uns gerade befinden. Draußen vorm Zelt steht ein Wachmann des Restaurant-Parkplatzes auf dem wir die letzte Nacht verbracht haben und er blickt nervös umher, während er immer wieder eindringlich „Wake up, Sir! Wake up, Sir!“ ruft.
Max streckt schließlich den Kopf zum Zelt hinaus und blickt fragend nach unten. „Are you awake?“ Was für eine Frage! Natürlich sind wir nun hellwach! „When are you going to leave?“ Na das hatten wir befürchtet. Zwar wurde uns gestern von den Parkplatzwächtern und unserem neuen Freund Efe, der hier das Restaurant führt, zugesichert, dass wir die Nacht ohne Probleme auf dem Grundstück verbringen können. Doch spätestens bei Sonnenaufgang kommen Zweifel bei den Verantwortlichen hoch, wie lange man die Gäste problemlos und ungesehen von anderen Ladenbesitzern ringsrum hier campieren lassen könne. Also klettern wir kurze Zeit später unsere Leiter hinunter und stehen wieder inmitten der lauten, chaotischen Stadt Lagos.
Da wir am Vortag keine Möglichkeit hatten eine SIM-Card zu besorgen, um Kontakt mit unseren Freunden aufzunehmen mit denen wir die nächsten Tage durch Nigeria reisen wollen, ist das die erste Herausforderung, die wir heute meistern müssen. Herausforderung deswegen, da heute Sonntag ist und wir lediglich ein paar Straßenhändler auftreiben können, die uns nur Guthabenkarten, aber keine SIM-Cards fürs Handy anbieten können. Auf der Suche nach Internet landen wir schließlich in einem Café – oder besser gesagt einer Imbissbude, die von 6 Uhr morgens bis 22 Uhr abends alles rund ums Thema „Chicken“ verkauft. Da weder Max noch ich als Vegetarierin Lust auf Hühnchen am frühen Morgen haben, begnügen wir uns mit einem trockenen Käsetoast und einer Tasse Kaffee. Die Hoffnung hier auf Wlan zu stoßen bleibt allerdings leider unbefriedigt, da der Router nicht zu funktionieren scheint. Doch wieder einmal hilft uns Nigerias Gastfreundschaft und Hilfsbereitschaft aus der Patsche. Der Kellner drückt uns sein entsichertes Smartphone in die Hand – wahrscheinlich sein ganzes Hab und Gut – und lässt uns über sein Guthaben einen Internet Hotspot aufbauen. Keine Frage, dass unser Trinkgeld trotz des schlechten Frühstücks entsprechend üppig für ihn ausfällt.
So erfahren wir schließlich, dass unsere Freunde Amy & Christos nach ihrer Auto-Reparatur in Benin weiterhin große Probleme mit ihrem Fahrzeug haben. Scheinbar leuchten diverse Warnleuchten in ihrem Amaturenbrett auf – keine gute Voraussetzung für eine unberechenbare und mehrere 1.000 Kilometer lange Fahrt quer durch Nigeria. Da laut deren Mechaniker die Lösungsfindung sicherlich noch ein bis zwei Tage auf sich warten lassen wird, sind wir also gezwungen länger als gewollt in Lagos zu verweilen. Grund genug, Lagos einmal besser kennenzulernen.


Gemeinsam mit unseren Freunden machen wir uns schließlich auf den Weg zur früheren Wirkungsstätte und nun Kult-Stätte der Afrobeat Legende Fela Kuti. Doch der Flair, den wir uns erhofft hatten, gehört scheints leider der Vergangenheit an. Zwar werden wir von diversen mehr oder weniger stark bekifften Leuten freudig begrüßt und in der Veranstaltungsstätte zu einem Schrein für den verstorbenen Künstler geführt, doch scheint dieser Ort zumindest tagsüber seinen Glanz verloren zu haben und eher Auffangstätte gestrandeter und drogenabhängiger (Möchtegern)künstler zu sein. Schnell suchen wir das Weite und düsen weiter zur Nike Art Gallery.





Diese Galerie ist über die Grenzen Nigerias für seine vielfältigen, afrikanischen Kunstwerke bekannt und verspricht mit einer Ausstellung über 4 Stockwerke ein guter Zeitvertreib zu sein. Schon beim Betreten der Galerie bemerken wir die positive und quirlige Stimmung, welche die Ausstellungsräume umgibt. Wir werden von einer älteren nigerianischen Dame per Handschlag und mit einem breiten Lächeln begrüßt, ohne zu wissen dass es sich hierbei um die Besitzerin und Künstlerin selbst handelt: NIKE. Nach einer Führung durch die 4 viel zu voll gestopften Ausstellungsräume mit teils skurriler, teils wunderschöner afrikanischer Kunst, klärt man uns schließlich über die Anwesenheit der Künstlerin auf und nach einem kurzen Plausch werden wir gebeten zu warten – man würde mit uns und Nike ein Foto machen wollen. Doch kein normales Foto – wir werden in traditionelle nigerianische Königsgewänder gekleidet, bekommen skurril wirkenden Kopfschmuck auf und dürfen mit Nike posieren.

Was für ein Spaß – allein der Anblick des jeweiligen Gegenübers lässt uns immer wieder in schallendes Gelächter ausbrechen und wir haben riesig Spaß an unserer Fotosession.


Nachdem wir die Gewänder wieder abgelegt haben, erwartet uns die nächste Überraschung. Vor dem Galeriegelände hat eine Band angefangen zu spielen und die umstehenden Gäste werden immer wieder reihum aufgefordert mitzutanzen oder ein Solo aufs Parkett zu legen. Natürlich geht der Kelch auch nicht an uns vorbei – und so darf jeder von uns seinen individuellen Tanzauftritt begleitet vom Klatschen und Kreischen der umstehenden Menge vollführen.



Wer hätte gedacht, dass wir in Lagos so viel Spaß haben würden? Zum Abschied lädt uns Nike noch zum Mittagslunch am nächsten Tag ein – sie möchte für uns traditionell kochen und freut sich auf unser Kommen. Wahnsinn diese Gastfreundschaft in einem Land, dessen schlechter Ruf eigentlich jede Reiselust im Keim erstickt!
Wer hätte gedacht, dass wir in Lagos so viel Spaß haben würden? Zum Abschied lädt uns Nike noch zum Mittagslunch am nächsten Tag ein – sie möchte für uns traditionell kochen und freut sich auf unser Kommen. Wahnsinn diese Gastfreundschaft in einem Land, dessen schlechter Ruf eigentlich jede Reiselust im Keim erstickt!
Vollkommen durchgeschwitzt von unserer Tanzeinlage bei über 40 Grad im Schatten düsen wir schließlich weiter zur nächstgelegenen Einkaufsmall. Ja, tatsächlich gibt es hier in Lagos unzählige große Einkaufskomplexe, die einem vom Kino bis hin zum Supermarkt und Ausgehmeile alles bieten. Hier werden erst einmal unsere Vorräte aufgestockt und danach nach kostenfreiem Wlan gesucht. Da wir noch mindestens eine weitere Nacht in Lagos verbringen werden und wir nicht nochmals inoffiziell auf einem Parkplatz nächtigen wollen, brauchen wir dringend eine neue Übernachtungsmöglichkeit. Die Hotels in der Stadt sprengen unser Budget und auch sonst gibt es keine offiziellen Campgrounds in der Nähe, die wir ansteuern könnten.
Schließlich bringt uns Amy auf den Gedanken Couchsurfing auszuprobieren. Dabei meldet man sich mittels App auf der gleichnamigen Plattform an und kontaktiert potenzielle Gastgeber in der Umgebung, die kostenlos Gäste bei sich aufnehmen. Wir sind sehr skeptisch, ob man eine derartige Plattform in Nigeria – einem der gefährlichsten Länder der Welt – ausprobieren sollte. Doch aus Mangel an Alternativen geben wir dem Ganzen eine Chance. Und tatsächlich – Jaco, ein südafrikanischer Finanzberater, der seit fast 10 Jahren in Lagos lebt, erklärt sich spontan bereit uns ein Gästezimmer für die Nacht zur Verfügung zu stellen. Allerdings ist er erst ab 9 Uhr abends zu Hause. Das bedeutet für uns, dass wir im Dunkeln durch Lagos Straßen irren, um seine Wohnung, die in einem verwinkelten Häuserblock liegt, zu finden. Nach 3-maligen Umrunden des Viertels und mit der ständigen Angst im Nacken im nächsten Moment an einer der dunklen Straßenecken überfallen zu werden (Vorsatz #2 für Nigeria: Niemals im Dunkeln Autofahren ist hiermit am zweiten Tag bereits gebrochen!) schaffen wir es schließlich tatsächlich sicher und unbeschadet zu Jaco. Und obwohl Jaco im ersten Moment sehr beschäftig und uninteressiert an seinen neuen Gästen scheint, haben wir riesiges Glück! Er lebt mit seinem Koch Robert aus Benin auf zwei Stockwerken, hat ein riesiges Gästezimmer mit eigenem Bad und bietet uns an, alles zu nutzen. Nicht nur dass er uns erlaubt seine Vorräte aus dem Kühlschrank zu nutzen, sondern auch auf die Fertigkeiten seines Kochs Robert sollen wir unbedingt zurückgreifen. Er würde gerade seit einer Woche fasten und Robert wäre froh endlich mal wieder etwas Leckeres für uns Gäste kochen zu dürfen. Und das Beste an Jacos Wohnung: Er besitzt eine riesige Waschmaschine und Trockner – mit dessen Hilfe wir endlich unsere bis dato nur handgewaschene Wäsche reinigen können.
Am nächsten Morgen kommen wir dann tatsächlich in den Genuss von Roberts köstlichem Frühstücksomelette und schmeißen beinahe unseren kompletten Kleiderschrank in die Waschmaschine. Die einzige Herausforderung ist dabei, dass alle 15 Minuten der Strom ausfällt, was die Waschmaschine zum Stoppen bringt und wir diese immer wieder neu anstellen müssen. Tatsächlich ist die Wasser- & Stromversorgung in dieser Großstadt ein riesiges Problem, wie uns Jaco am Abend erzählt. Obwohl der etwas wohlhabendere Teil der Bevölkerung daher externe Wasserreservoirs und Stromgeneratoren neben ihren Gebäuden angeschlossen hat, dauert die Überbrückung bei Stromausfall immer einige Minuten, was entsprechend alle laufenden Geräte zum Stillstand bringt. Wieder einmal wird einem bewusst, dass der Luxus von fließend Wasser & Strom in unserer Gesellschaft derart selbstverständlich ist, dass wir diesen gar nicht mehr zu schätzen wissen. Zeit sich wieder einmal bewusst zu werden, welche Privilegien wir tatsächlich in Deutschland genießen dürfen!

Nachdem sämtliche Wäsche im Trockner verstaut bzw. die empfindlichen Teile im ganzen Gästezimmer zum Trocknen ausgebreitet sind, machen wir uns auf den Weg zu unserem Lunchdate mit Nike. Wir werden überschwänglich und herzlich vor der Galerie empfangen, wo bereits Sitzgelegenheiten aufgebaut sind. Neben frischer Kokosnuss wird eine fast 40 Grad warmer Weißwein zur Feier des Tages aufgemacht und Nike präsentiert uns voller Stolz ihre selbstgekochten nigerianischen Köstlichkeiten: Von wildem Spinat, über gekochte Yamswurzel, Gemüse aus getrockneten Melonenkernen und Maniok mit Fisch und Fleisch.

Während wir uns durch die verschiedenen Gerichte probieren, lässt uns Nike tiefer in ihre Vergangenheit eintauchen und erzählt uns von ihrem bewegten Leben. Tatsächlich ist sie als junges Kind von zu Hause weggelaufen, als sie erfuhr, dass sie zwangsverheiratet werden soll. Ohne Ausbildung und Hab und Gut sprach sie dann bei einer Familie vor, die gerade nach einem Hausmädchen suchten. Diese zweifelten zwar an ihr als Hausmädchen, gaben ihr aber aufgrund ihrer Hartnäckigkeit schließlich Arbeit. Und so verdiente sie bereits in ihren jungen Jahres ihr eigenes Geld und setzte sich gegen die Heirat durch. Auch später bewies sie Courage als sie sich von ihrem späteren Mann, der neben ihr noch diverse andere Frauen heiratete, lossagte und als Künstlerin international den Durchbruch schaffte. Ihre Arbeit geht dabei über die Kunst hinaus – sie nutzt ihr Können, um auch anderen Künstlern und Frauen zu helfen. So bietet sie z.B. unbekannten Straßenkünstlern in deren Können sie vertraut in ihrer Galerie in Lagos eine Fläche, um ihre Kunstwerke auszustellen und international bekannt zu machen. So haben es schon einige der Künstler zu Kunstmessen und internationalen Ausstellungen wie z.B. der Biennale in Venedig geschafft.
Darüber hinaus engagiert sie sich in Italien für die Hilfe von nigerianischen Prostituierten. Diese jungen Mädchen werden häufig von ihren Familien zum Geldverdienen nach Europa geschleust und enden dort meist auf dem Straßenstrich oder im Bordell, ohne Geld, Pass und häufig derart gedemütigt, dass sie sich nicht trauen ihren Familien von ihrem Schicksal zu berichten oder gar nach Nigeria zurückzukehren. Hier bietet Nike den Frauen die Möglichkeit in ihren Kunstworkshops einer neuen Passion nachzugehen und durch eine künstlerische Tätigkeit so aus der Abwärtsspirale zu entkommen.
Wir hängen über lange Zeit an Nikes Lippen und sind fasziniert von dieser Frau, die so viel Mut, Passion und Herzlichkeit ausstrahlt und es zu einer wahren Berühmtheit Nigerias geschafft hat. Doch wir kommen aus dem Staunen nicht raus, als uns Nike schließlich einlädt nach dem Mittagessen noch ihre „Häuser“ zu besichtigen. Diese befinden sich in dem frisch erbauten Neubauviertel in Nähe der Galerie. Dort hat Nike sehr extravagant, aber sehr geschmackvoll zwei Häuser mit ihren Möbeln und Kunstwerken ausgestattet und will diese Gebäude zukünftig nutzen, um interessierten Kunstliebhabern die Möglichkeit zu bieten, die Kunst in ihrer „natürlichen Umgebung“ zu erfahren und ggfs. auch einmal eine Nacht neben den Kunstgegenständen zu verbringen, um sich von der Schönheit der Werke besser überzeugen zu können. Eine wirklich einzigartige Idee.



Etwas erschlagen von all den berührenden Erzählungen, den tollen Eindrücken und dem leckeren Essen, fahren wir schließlich abends wieder zu Jaco, der sich freut, dass wir eine weitere Nacht bei ihm verbringen werden. Gemeinsam leeren wir eine Flasche Wein und erfahren viel von ihm, seinem Leben in Lagos und wie er sich hier zurechtfindet. Plötzlich während der Unterhaltung steht er auf und geht zu einem Raum, den wir bisher nicht betreten haben. Es stellt sich als sein „Hobby-Raum“ heraus, wo neben einer Billiard-Platte auch ein Motorbike eines früheren Couchsurfers steht, das dieser spontan bei Jaco zwischengeparkt hatte und seither (2 Jahre) nicht mehr abgeholt hat. Jaco ruft mich herbei und öffnet eine riesige Tiefkühltruhe, die komplett gefüllt ist mit Leckereien. Er holt 3 Käse hervor, die er von seinem letzten Südafrika-Besuch mitgebracht hat und drückt sie mir zusammen mit zwei Tafeln Schokolade in die Hand. Wir sollen die Dinge mitnehmen und auf der weiteren Reise genießen – er weiß wie teuer diese Dinge hier in diesem Teil Afrikas sind und würde sich freuen, wenn wir sie annehmen. Ich bin überwältigt von Jacos Großzügigkeit und Aufmerksamkeit. Wer würde in Deutschland Wildfremde bei sich kostenfrei übernachten lassen, ihnen den Schlüssel in die Hand drücken und sagen, sie dürfen alles benutzen, was er hat und dann auch noch mit leckeren Geschenken überhäufen? Erneut wird mir bewusst, wie sehr wir uns in Deutschland über Besitz definieren und maximal in unserem engsten Freundes- und Verwandtenkreis bereit sind bedingungslos zu teilen. Diese Offenheit hier in Nigeria ist beinahe beängstigend und lässt mich mit Max noch lange darüber diskutieren und grübeln, warum wir in Europa derart anders gestrickt sind und obwohl wir häufig deutlich mehr haben als die Leute hier, oft nicht gewillt sind zu teilen oder gar nicht erst auf die Idee kommen.