Wir verlassen Tiwai Island & das nette Dörfchen am nächsten Morgen mit dem Ziel heute die Grenze nach Guinea zu erreichen. Dabei soll es sich um eine kleine, wenig genutzte Grenze handeln, die kaum von Touristen oder gar LKWs befahren wird. Doch schon nach 2 Stunden Fahrt werden wir von der Polizei aufgehalten. Wir sollen vor dem heruntergelassenen Schlagbaum doch bitte bis 12 Uhr warten. Heute sei „National Cleaning Day“ und daher dürfe man erst wieder um 12 Uhr die Stadt mit dem Auto durchqueren. Zuerst denken wir, dass dies ein 01. April-Scherz sein müsse und wir von den Hütern des Gesetzes auf den Arm genommen werden. Aber weit gefehlt. Auch andere Autos und LKWs gesellen sich zu uns und werden nicht durchgelassen. Lediglich irgendwelche „wichtigen Beamten“ oder Schmiergeldzahler dürfen passieren. Was denn eigentlich genau gemacht werde beim National Cleaning Day, wollen wir von den Polizisten wissen. Naja, aufgeräumt eben, lautet die knappe Antwort. Dieser wichtige Tage würde jeden 1ten Samstag im Monat in allen Großstädten stattfinden, ob man uns das denn nicht gesagt habe. Nein, hat man nicht und so warten wir ungeduldig vor der Schranke bis sie Punkt 12 Uhr geöffnet wird und wir nach Kenema – der nicht wirklich gesäubert wirkenden Stadt – reinfahren dürfen. Wer auch immer diese glorreiche Regelung eingeführt hat, wir könnten ihn gerade auf den Mond schießen.

Nach dieser Unterbrechung geht’s also weiter gen Norden. Die Strecke scheint endlos, es wird hügeliger und die Straße zunehmend schlechter. Uns wir bewusst, dass wir heute über keine Grenze mehr fahren werden und wir vielmehr zusehen müssen, eine Unterkunft vor Einbruch der Dunkelheit zu bekommen. Koindu – so lautet das letzte Städtchen vor der Grenze – scheint dafür geeignet. Nach langer, kräftezehrender aber zugleich landschaftlich reizvoller Rüttelfahrt, fragen wir den ersten einigermaßen kompetent aussehenden Mann am Straßenrand von Koindu nach Übernachtungsmöglichkeiten. Und wir haben Glück: er ist der örtliche Pastor und nachdem wir ihm versichert haben, dass wir ebenfalls christlichen Glaubens sind, bietet er bereitwillig an, uns bei der Unterkunftssuche zu helfen. Wir dürfen vor der Kirche gerne stehen bleiben, allerdings unter der Bedingung, dass die Oberhäupter der Stadt dem zustimmen.
Wir werden also zum ersten Chief von Koindu geführt und müssen unsere Übernachtungsbitte vorsprechen. Dabei dürfen wir nicht direkt mit dem Chief kommunizieren, sondern lediglich über seinen Sprecher, der alles aus dem Englischen in die lokale Sprache übersetzt und dem Chief wiedergibt (obwohl dieser besser Englisch zu sprechen scheint, als sein Mittelsmann). Eine etwas skurrile Situation, die uns nach 10 Stunden Fahrt und mit der Ungewissheit im Nacken, ob wir hier tatsächlich nächtigen dürfen einiges an Geduld abverlangt. Endlich ist der Chief zufrieden und wir bekommen seinen wohlwollenden Segen in der Stadt nächtigen zu dürfen. Doch unsere Freude ist nur von kurzer Dauer, denn unser freundlicher Pastor macht uns klar, dass wir noch weitere Chiefs beknien müssen, bevor wir endgültig bleiben dürfen. Also weiter durchs Dorf auf der Suche nach dem nächsten Chief. Auch Chief Nummer 2 lässt uns nach 10-minütigen Palaver über seinen Sprecher ausrichten, dass wir geduldet sind. Bei Chief Nummer 3 haben wir Glück, der liegt nämlich krank im Bett und kann keinen Besuch empfangen. Wir dürfen also auch ohne dessen Zustimmung bleiben.

Da es erst kurz vor Sonnenuntergang ist und wir uns noch etwas die Beine vertreten wollen, bitten wir den Pastor um einem Stadtrundgang. Erst jetzt nehmen wir die vielen zerstörten Häuser wahr, genauso wie die zahlreichen verwahrlosten Marktstände. Der Pastor erklärt uns, dass Koindu die Stadt war, in der Sierra Leones Bürgerkrieg ausgebrochen und auch zu Ende gegangen ist. Die ganzen niedergebrannten Häuser sind Zeitzeugen des grausamen Krieges. Da man nicht wisse, ob es noch Hinterbliebene der jeweiligen Grundstücke gibt, traue sich keiner diese neu zu bebauen oder gar zu bewirtschaften, erklärt man uns. Vor allem da es schon häufig dazu gekommen sei, dass nach dem Wiederaufbau eines Gebäudes auf einmal Papiere vermeintlicher Besitzer aufgetaucht sind und das Land hatte wieder abgegeben werden müssen. Daher lebe man mit den mahnenden Relikten der Gräueltaten von damals.



Doch dies sei nur eins der Schicksale von Koindu gewesen. Nach Ende des Bürgerkrieges ist kurze Zeit später Ebola ausgebrochen und habe Koindu ebenfalls hart getroffen. Wir können uns dabei vorstellen, wie diese abgeschiedene Stadt sicherlich während des Ausbruchs der Epidemie gelitten haben muss und internationale Hilfe nur schwer ihren Weg in den schwierig zu bereisenden Norden geschafft hat.

Nach unserem Rundgang und zig-fachen Vorstellungsrunden mit örtlichen Händlern, Bäckern oder sonstigen Dorfbewohnern wird uns Mary vorgestellt. Sie ist nicht nur so freundlich und lässt uns ihr Bad nutzen, sondern erzählt uns in ihrem Wohnzimmer auf Plüschsofas sitzend ihre Geschichte. Ihr Vater war Pastor und Gründer der Kirche, neben der wir heute Nacht nächtigen dürfen. Allerdings ist er nicht in Sierra Leone, sondern während der Flucht vor dem Bürgerkrieg in Guinea gestorben. Sie, ihr Mann und ihre Kinder waren ebenfalls nach Guinea geflohen. Nach ihrer Rückkehr nach Sierra Leone sind ihre Kinder zum Studieren und arbeiten nun unter anderem in Amerika und Australien. Von dort aus schicken sie ihr regelmäßig Geld, um Mary und ihr Projekt „Smile with us“ zu unterstützen. Dabei versucht sie aus eigenen Mitteln die Waisenkinder Koindus, die der Krieg und kurz darauf der Ausbruch von Ebola hervorgebracht hat, zu versorgen. Sie zeigt uns ihr Buch, in dem fein säuberlich die Namen und Daten der Kinder eingetragen sind, denen sie versucht täglich eine warme Mahlzeit zu bieten und einen Ort, wo sie sich tagsüber geborgen und versorgt fühlen können.
Die Kinder sind zwischen 3 und 16 Jahre alt. Die meisten der Kinder, so erzählt Mary uns, leben bei entfernten Verwandten, die den Kindern aus Respekt der traditionellen Werte ein Dach über den Kopf geben, häufig aber nicht genug haben, um diese zu versorgen oder sie in die Schule schicken zu können. Oder lieber ihr Erspartes in die eigenen Kinder investieren wollen. Dann springt Mary ein und sorgt für die notwendige Schuluniform, um zumindest die grundlegende Schulausbildung und damit die Chance auf eine bessere Zukunft für die Waisenkinder zu gewährleisten. Wir sind beeindruckt davon, was Mary in Eigenregie alles auf die Beine gestellt hat und versprechen ihr sie mit etwas Kleidung für die Kinder am nächsten Morgen zu unterstützen. Gerade noch rechtzeitig verabschieden wir uns von Mary und ihrem Mann, um zurück zum Auto zu laufen und rein ins Zelt zu klettern. Denn kurz danach öffnet sich der Himmel und Wassermassen ergießen sich über Koindu gefolgt von Sturm, Donner und Blitzen. Wir liegen noch lange wach. Zum einen, da wir versuchen mit Handtüchern dem Regen, der sich in unser Zelt peitscht, Einhalt zu gebieten und zum anderen, aufgrund der vielen Gespräche und traurigen Schicksale, die wir heute erfahren haben.